Rechtsprechung

BGH: Stimmrechtslose Mitglieder zählen bei der Klagebefugnis für die Musterfeststellungsklage nicht mit

In zwei Entscheidungen hat der BGH (Urteil vom 17.11.2020, Az. XI ZR 171/19; Beschluss vom 17.11.2020, XI ZB 1/19) dargestellt, welche Anforderungen die Mitglieder einer qualifizierten Einrichtung im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UKlaG erfüllen müssen, wenn sie die Klagebefugnis für eine Musterfeststellungsklage (§ 606 ZPO) in Anspruch nehmen wollen. Eine der zu erfüllenden Voraussetzungen ist, dass solche Einrichtungen „als Mitglieder mindestens zehn Verbände, die im gleichen Aufgabenbereich tätig sind, oder mindestens 350 natürliche Personen haben“ (§ 606 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO). Im Verfahren zum Az. XI ZR 171/19 hat der BGH die Auffassung der Vorinstanz (OLG Stuttgart, Urteil vom 20.03.2019, Az. 6 MK 1/18) bestätigt, dass bei den natürlichen Personen nur stimmberechtigte Mitglieder mitzählen:

„Zu den Mitgliedern nach § 606 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZPO gehören nur solche Verbände und natürliche Personen, die kraft der ihnen organschaftlich zustehenden Rechte in relevanter Weise auf das Verhalten und die Geschicke des Vereins Einfluss nehmen können (vgl. MünchKommZPO/Menges, 6. Aufl., § 606 Rn. 6; Riesner, ZIP 2019, 1507, 1514). Die Möglichkeit, in dieser Weise Einfluss zu nehmen, setzt ein Stimmrecht auf den Versammlungen des Vereins voraus. Da die Internetmitglieder des Musterklägers kein Stimmrecht haben, sind sie, wie das Oberlandesgericht zutreffend annimmt, bei der Berechnung der Mitgliederzahl nach § 606 Abs.1 Satz 2 Nr .1 ZPO nicht mitzuzählen (aA Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, 2.Aufl., § 606 Rn. 35; ders., BKR 2019, 301, 302; Rotter, VuR 2019, 283, 294; Felgentreu/Gängel, VuR  2019, 323, 324; BeckOK ZPO/Lutz, 38.Edition, Stand 01.09.2020, § 606 Rn. 33; Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 17.Aufl., § 606 Rn. 7). Das den Internetmitgliedern nach der Satzung des Musterklägers (vgl. § 7 Nr. 1 und § 10 Nr. 3) zustehende Recht auf Teilnahme an Mitgliederversammlungen und das Recht zur Mitwirkung an der Einberufung von Mitgliederversammlungen reicht – entgegen der Auffassung der Revision – nicht aus, um auf das Verhalten und die Geschicke des Vereins in relevanter Weise Einfluss nehmen zu können.“

(BGH, Urteil vom 17.11.2020, Az. XI ZR 171/19, Rn. 18)

Der BGH betont allerdings, dass der für § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO entwickelte Mitgliedschaftsbegriffs vom vereinsrechtlichen Verständnis abweicht, wonach die Satzung eines Vereins abgestufte Mitgliedschaften mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten bestimmen kann. Das geht hin bis zu der zulässigen Ausgestaltung einer (passiven) Mitgliedschaft, die sich auf das Recht der Teilnahme an Mitgliederversammlungen und auf Einberufung solcher beschränkt (BGH, a.a.O., Rn. 19). An den Begriff des Mitglieds im Sinne des § 606 Abs. 1 S. 2 Nr.1 ZPO seien wegen des vom Gesetzgeber mit den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Klagebefugnis bei Musterfeststellungsverfahren verbundenen Zwecks höhere Anforderungen als bei vereinsrechtlichen Sachverhalten zu stellen. Durch die Beschränkung der Klagebefugnis auf besonders qualifizierte Einrichtungen solle sichergestellt werden, dass Musterfeststellungsklagen nur im Interesse betroffener Verbraucher und von Organisationen erhoben werden können, die aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit die Gewähr für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung und keine Anhaltspunkte für Missbrauch bieten (BT-Drs. 19/2439, S. 23). Außerdem solle verhindert werden, dass sich Einrichtungen aus verbraucherschutzfremden Motiven gründen, nur um für einen bestimmten Einzelfall kurzfristig die Klagebefugnis zu erlangen (BT-Drs. 19/2439, S. 23). Vor diesem Hintergrund müssten Mitglieder im Sinne des § 606 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO die Möglichkeit haben, dafür zu sorgen, dass Musterfeststellungsklagen nicht aus verbraucherschutzfremden Motiven erhoben werden und dass der Verband in zeitlicher Hinsicht eine gewisse Stabilität aufweist.

Auf die qualifizierten Wirtschaftsverbände (§ 8b Abs. 2 Nr. 1 UWG n. F.) bzw. auf qualifizierte Einrichtungen nach dem UKlaG sind diese Wertungen nicht übertragbar (OLG Dresden, Urteil vom 22.06.2021, Az. 14 U 2212/20). Zum einen hat der BGH ausdrücklich erwähnt, dass dieses – vom Vereinsrecht abweichende – Verständnis der Mitgliedschaft wegen der Besonderheiten des Musterfeststellungsklagen-Verfahrens gilt. Nach der Gesetzesbegründung zum „Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage“ handelt es sich insofern bei den Anforderungen des § 606 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 ZPO um „gesteigerte Anforderungen“, die zusätzlich zu den Anforderungen des UKlaG (und damit auch denen des UWG n. F.) „auch noch“ erfüllt werden müssen (BT-Drs. 19/2439, S. 22/23). Zum anderen hat sich der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zum „Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs“ BT-Drs. 19/12084, S. 28) eindeutig dahingehend festgelegt, dass sogar (nicht organschaftliche) mittelbare Mitglieder mitzählen:

„Die Zahl von 75 Mitgliedern orientiert sich an den Voraussetzungen für qualifizierte Einrichtungen nach dem UKlaG und soll sicherstellen, dass der Verein durch eine gewisse Größe seine Aufgaben verantwortlich wahrnimmt. Bei der Mitgliedszahl können auch mittelbare Mitgliedschaften über Verbände berücksichtigt werden.“

In der Begründung des Referentenentwurfs der Verordnung zu qualifizierten Einrichtungen und qualifizierten Wirtschaftsverbänden, (QEWV), S. 41, (die QEWV ist am 08.06.2021 in Kraft getreten) heißt es entsprechend:

„Wenn die Satzung des Verbands dies vorsieht, kann die Mitgliedschaft aber auch mittelbar erworben werden, indem eine Vereinigung Mitglied des Verbands wird und durch den Beitritt der Vereinigung auch die Unternehmer, die Mitglieder in dieser Vereinigung sind, die Mitgliedschaft in dem Verband erwerben. Dann können auch diese Mitgliedsunternehmer die die Mitgliedschaft im Verband mittelbar erworben haben, in der Mitgliederliste aufgeführt werden.“

Die mittelbaren Mitglieder haben aber nur ein Rechtsverhältnis zu demjenigen Verband, der Mitglied eines qualifizierten Wirtschaftsverbandes ist. Sie sind im qualifizierten Wirtschaftsverband selbst kein Mitglied im vereins- bzw. organschaftlichen Sinne und haben demnach dort auch kein Stimmrecht. Insofern haben mittelbare Mitglieder, die nach dem gesetzgeberischen Willen bei der Mitgliedszahl zu berücksichtigen sind, weniger Rechte als passive Mitglieder (deren Rechte auf die Teilnahme an und das Einberufen von Mitgliederversammlungen beschränkt sind).

Dieses Verständnis entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 18.05.2006, Az. I ZR 116/03 – Brillenwerbung):

„Wird die Mitgliedschaft in einem Wettbewerbsverband durch einen anderen Verband vermittelt, so können die Unternehmer, die Mitglieder des vermittelnden Verbands sind, dem Wettbewerbsverband auch dann i.S. des § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG angehören, wenn wegen eines Beitrittmangels nur eine faktische Mitgliedschaft in dem Wettbewerbsverband besteht.“

 Insofern ist auch auf das Urteil des BGH vom 23.10.2008, Az. I ZR 197/06 – Sammelmitgliedschaft VI – zu verweisen (vgl. auch BGH, Urteil vom 27.04.2017, Az. I ZR 55/16 – Preisportal):

 „Ebenso wenig brauchte der Kläger zu Bedeutung und Umsatz seiner (mittelbaren oder unmittelbaren) Mitglieder vorzutragen.“

sowie ferner auf das Urteil des BGH vom 16.11.2006, Az. I ZR 218/03, Ls. – Sammelmitgliedschaft V:

„Für die Klagebefugnis eines Verbands kommt es grundsätzlich nicht darauf an, über welche mitgliedschaftlichen Rechte dessen – mittelbare oder unmittelbare – Mitglieder verfügen.“

Das Bundesamt für Justiz hat betreffend das Registrierungsverfahren (§ 8b UWG n. F.) für die qualifizierten Wirtschaftsverbände am 28.01.2021 als rechtliche Auskunft mitgeteilt, dass (stimmrechtslose) mittelbare Mitglieder bei den 75 Mitgliedern im Sinne des § 8b Abs. 2 Nr. 1 UWG n. F. mitzählen, soweit die Satzung des Verbandes das so vorsieht:

„… ist es zutreffend, dass dazu auch Mitgliedsunternehmer zählen, die eine mittelbare Mitgliedschaft im antragstellenden Verband erworben haben. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Satzung des antragstellenden Verbands das vorsieht …“

Insofern kann davon ausgegangen werden, dass sich bezüglich des UWG und des UKlaG an der bisherigen Rechtsprechung zur Mitgliedschaft in Verbänden nichts ändern wird.

Dr. Harald Schneider
RA + FA IT-Recht